Ist alles durch Trauma bedingt, alles durch Gene, oder...?

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09.08.2023 09:13
avatar  Sybille
#136
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Also tatsächlich gewinne ich mehr und mehr den Eindruck, dass bei der ganzen Traumadebatte die Frage im Vordergrund steht, ab wann man etwas als "Trauma" bezeichnet.
(Mein Zahnarzt hat zB. mal zu mir gesagt, eine Behandlung erzeuge beim Zahn ein Trauma, weswegen der Nerv in nächster Zeit besonders empfindlich sei und ich leichter Schmerzen habe. Ist was anderes? - stimmt. Aber der Begriff Trauma ist trotzdem so gefallen, großes Ehrenwort.)

Jeder Mensch hat in seinem Leben einschneidende und prägende Erlebnisse. Ab wann man dazu "traumatisches" Erlebnis sagt und bis wann man "das hat mich echt beeindruckt" sagt, scheint mir sehr unterschiedlich gehandhabt zu werden. Und während wohl jeder Mensch mal eine Zahnbehandlung hat, nach der die Zähne empfindlich sind, kommen GsD doch einige Leute durchs Leben ohne Vergewaltigung/ Kriegseinsatz oder sonstwas "traumatisch-traumatisierendes" 😉 zu erleben.

Die Frage, ob "das alles" traumabedingt ist hängt daher mMn zu einem großen Teil an dieser Definition.
Hängt "das alles" zu wesentlichen Teilen an den Dingen, die ich in meinem Leben erlebt habe, den Erfahrungen, die ich gemacht habe? Ja klar. ALLES im Leben hängt damit zusammen. Jedenfalls auch. Kommt man nicht vollständig drum herum, der Einfluss ist nicht zu leugnen.

Ob ich dazu "Traumafolge" "bittere Lektion" "Erfahrungswert" oder "So bin ich halt" sage, ist wohl Geschmacksache.

Und daher gewinne ich den Eindruck, dass die Antwort auf die Frage "Alles Trauma oder was?" eben auch "Das ist letztlich Geschmacksache" lautet.


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09.08.2023 09:54
avatar  IBI
#137
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Danke für deine ausbalancierende Sichtweise, sybille.

Zitat von Sybille im Beitrag #136
(Mein Zahnarzt hat zB. mal zu mir gesagt, eine Behandlung erzeuge beim Zahn ein Trauma, weswegen der Nerv in nächster Zeit besonders empfindlich sei und ich leichter Schmerzen habe. Ist was anderes? - stimmt. Aber der Begriff Trauma ist trotzdem so gefallen, großes Ehrenwort.)


Ja, das kann ein Trauma werden oder sein.

Für Trauma habe ich 4 unterschiedliche Definitionen und Sichtweisen kennen gelernt.
Es kann vorkommen, dass Menschen alle Versionen, die verwendet werden, erlebt haben.

Ich beziehe mich mehrheitlich auf Entwicklungstrauma/Bindungstrauma der frühen Kindheit.

Zitat von Sybille im Beitrag #136
Ab wann man dazu "traumatisches" Erlebnis sagt und bis wann man "das hat mich echt beeindruckt" sagt, scheint mir sehr unterschiedlich gehandhabt zu werden.

Ja, das sind individuelle Wahrnehmungen.
Ein Therapeut kann mich als traumatisiert einschätzen, während ich das möglicherweise anders bezeichne.

Zitat von Sybille im Beitrag #136
Ob ich dazu "Traumafolge" "bittere Lektion" "Erfahrungswert" oder "So bin ich halt" sage, ist wohl Geschmacksache.

Da stimme ich dir voll zu.
Es gibt Menschen, die wissen, dass sie traumatisiert sind und verwenden diesen Begriff nicht, sondern nennen Drama, Schicksal, dysfunktionale Beziehung oder oder oder

Es können Entwicklungsthemen sein, die viele Menschen beschäftigen, und nicht jedes Entwicklungsthema führt zum Entwicklungstrauma über.
Die Hartnäckigkeit mit der unliebsame Verhaltensweisen bei einem bleiben, können ggf. auf ein Indiz hinweisen, ob Trauma oder Thema.


Zitat von Sybille im Beitrag #136
Hängt "das alles" zu wesentlichen Teilen an den Dingen, die ich in meinem Leben erlebt habe, den Erfahrungen, die ich gemacht habe? Ja klar. ALLES im Leben hängt damit zusammen. Jedenfalls auch. Kommt man nicht vollständig drum herum, der Einfluss ist nicht zu leugnen.

Genau.
Ist der Einfluss damals in einigen Bereichen sehr dysfunktional geprägt gewesen, ist die Reaktion darauf ebenfalls eher dysfunktional.
Ist der Einfluss damals mehrheitlich konstruktiv und fördernd erfolgt und wurde achtsam zwischen unangemessenem Verhalten und der Person unterschieden, die trotz des Verhaltens die Erfahrung machen durfte, angenommen und geliebt zu sein, wird die Person tendenziell eher unter "Themen" leiden als unter "Trauma".

Mit deiner Aussage bestätigst du die These, dass weniger die GENE dazu beitragen als das Umfeld und die daraus resultierenden gesammelten Erfahrungen und ihre Wirkung auf dich als Person.

Heute habe ich in der Badewanne darüber sinniert, wie meine "Sichtweisen" auf Themen ebenfalls Einfluss nehmen und die innere "Neutralität" beeinträchtigen können.
Gleichzeitig kam dann der Impuls hoch: An irgendeiner Theorie muss ich mich doch "Festhalten", um einen HALT zu spüren.
(Ja, MUSS, richtig gelesen. Mal sehen, wann ich das MUSS in "nicht nötig" und kann mich unabhängig davon halten, verwandelt.)


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09.08.2023 10:01
avatar  Sybille
#138
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Zum Thema Gene wollte ich tatsächlich bewusst NIX gesagt haben (hab ich mMn auch nicht). Mir ist das mit den Genen nämlich ein Buch mit 7Siegeln, da halt ich mich raus.
Aber ich glaube noch der überzeugteste Anhänger der alles-Genetisch These wird nicht drum herum kommen, dass die Menschen UNTER ANDEREM AUCH durch ihre Erfahrungen beeinflusst werden. Die sind nämlich immer da.
Das ist alles was ich sage.


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19.08.2023 14:40 (zuletzt bearbeitet: 19.08.2023 14:43)
avatar  Robin
#139
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@Sybille, @IBI + alle

Guten Tag, ihr Lieben,

Zitat von Sybille im Beitrag #136
Und daher gewinne ich den Eindruck, dass die Antwort auf die Frage "Alles Trauma oder was?" eben auch "Das ist letztlich Geschmacksache" lautet.


Und deshalb möchte ich meinen Geschmack begründen.

So erstmal habe ich überhaupt keinen Zweifel daran, dass wir sowohl mit einer gewissen Veranlagung auf die Welt kommen als auch durch die Gesamtheit unserer Erfahrungen geprägt werden. Dazu gehören aber nicht nur Traumen, sondern auch ganz normal Erlerntes (z.B. kann ich mich wirklich nicht erinnern, dass meine Eltern mal eine Notwendigkeit hatten, zu "decluttern"!) oder auch die Gewohnheiten, die man im Leben so entwickelt und die m.E. erheblichen Spielraum dafür bieten, sie bewusst zu formen - und die somit Platz bieten für sowas wie den freien Willen. Den nimmt man natürlich in irgendwie dramatischen Einzelentscheidungen stärker wahr, aber in den vielen kleinen Dingen ist er dafür einfacher umzusetzen. Bei dem, was uns prägt, spielt übrigens auch die berufliche Erfahrung eine große Rolle, die meist einfach unterschlagen wird.

Alle diese Teile interagieren miteinander, und sind so untrennbar ineinander verstrickt. Dieses Chaos ist unser Ich, und die Geschmacksfrage ist, welchem der vielen Fäden man folgen will auf der Suche nach einer Ursache für einzelne Aspekte unseres gegenwärtigen So-Seins.

Manche Leute haben triftige Gründe, davon auszugehen, dass sie stark durch ein Trauma geschädigt wurden. Ich spreche da niemandem was ab. Mir geht es nur um die Frage, ob es eine hilfreiche Idee ist, Leuten pauschal zu erklären, wenn sie Messies sind, dann seien sie traumatisiert.

Um das zu untersuchen, betrachte ich hier mal die Geschichten, die hinter diesen Betrachtungsweisen verborgen sind, und was sie mit uns und unseren sozialen Zusammenhängen machen.

Den ersten Hinweis, dass die Erklärung, jede Nicht-Normalität sei durch ein Trauma verursacht, vielleicht doch nicht so fortschrittlich ist, wie ich bis dahin dachte, kam in einer Bibliothek... Ein Buch, das ich zufällig aus dem Regal gezogen hatte und dann nicht geliehen hab, weil ich fand, ich habe das Wichtigste daraus schon gefunden. Da war die Mutter eines schwer autistischen Kindes, so in den 70ger Jahren. Damals führte man Autismus auf "Kühlschrankmütter" zurück und so. Was immer im Leben eines Menschen nicht so war, wie es gesellschaftlich erwünscht war, galt als von den Eltern verursacht. Und diese Mutter fragte den Arzt oder Therapeuten, was er denn glaubt, das sie dem Kind antue? Und er hatte keine vernünftige Antwort, aber behandelte sie ausgesprochen kühlschrank-mäßig.

Und so nach und nach ist mir meine Scham wieder eingefallen, weil mein Sohn so komisch lief, als er klein war, und weil er komisch sprach ("multiples Stammeln") und später Schwierigkeiten hatte mit dem Lesen und Schreiben. Ich erinerte mich auch an Lehrer_innen, die mir dies im vorwurfsvollen Ton mitteilten und den Eindruck machten, dass ich gefälligst dafür sorgen soll, dass das aufhört. Übrigens: Lehrende, die Ahnung von dem Thema hatten, benahmen sich nicht so, und auch nicht die Logopädin. Die sagte sogar ganz klar, dass es nicht der Typ Störungen sei, der von irgendwelchen Erziehungsfehlern käme.

Trotz dieser Erfahrungen habe ich später selbst den Fehler gemacht, meinem verbleibenden Elternteil - meinem Vater - die Schuld an allem Möglichen zu geben. Angefangen natürlich beim Tod meiner Mutter. Er hat ihn ja nicht verhindert. (Sie hat sich totgesoffen.) Und ich habe ihn auch nicht verhindert... Wir haben das beide nicht verhindern können! Das ist die Realität! Und wie grausam ist das denn, dafür, dass man dies durchmachen musste und nicht verhindern konnte, auch noch sich selbst und dem anderen Vorwürfe zu machen? Und die Schuld des anderen bedingt immer auch die eigene... Weil sie auf derselben Logik beruhen. Auch wenn man sich natürlich sagt, dass man ja noch ein Kind war.

Also was sagt uns diese ganze Schaden- und Schuld-Story über uns selbst?
- Dass wir nicht okay sind, so wie wir sind.
- Dass wir von bösen Leuten abstammen.
Ich finde, das klingt nicht gut... Aber jede Story braucht auch Vorzüge, wenn sie angenommen werden will. Hier sind die Vorzüge dieser Geschichte:
- Wir können uns ändern. JAAA, wir können aufhören, die zu sein, die wir sind, und werden verwandelt in die, die wir sein sollen! Da aber der Schaden ja in der Vergangenheit stattgefunden hat, wird die Reparatur schwierig, schmerzhaft und mühsam.
-Und auch die Schuldfrage: Ich schrieb, dass diese ganze Schuldgeschichte immer auch die eigene Schuld irgendwo beinhaltet, und das stimmt. Ich kann das nicht erklären. Es ist vielleicht so, dass man sich im Grunde schuldig fühlt und sich hinter der Schuld der anderen versteckt? Jedenfalls: Die Theorie sagt einem, man sei nicht schuld, und präsentiert eine/n Schuldigen: Meist die eigene Mutter.

Die andere Geschichte, die mit den Genen, ist historisch mit der Idee von angeboren höherwertigeren und niedrigwertigeren Menschen belastet. Deshalb war es durchaus ein Fortschritt, als die Menschen im vorigen Jahrhundert nichts mehr mit solchen Ideen zu tun haben wollten. Das ist ja auch eine ganz üble Geschichte... Hier wird uns auch gesagt, dass wir nicht so sind, wie wir sein sollten. Und dass wir uns nicht ändern können und man solche wie uns allenfalls verhindern kann durch rechtzeitige Abtreibung oder so. Das ist allerdings keine naturwissenschaftliche oder auch nur rationale Sicht der Dinge.

Die Evolution kennt nämlich überhaupt kein höher oder tiefer, sondern bloß Überleben. Und zu diesem Zweck braucht es eine gewisse Variabilität, damit sich die Art weiterentwickeln kann. Heutzutage spricht man deshalb von "menschlicher Vielfalt". Dabei ist niemand irgendwie mehr wert als die anderen, niemand ist richtig oder falsch. Sondern es braucht einfach diese Vielfalt, zum einen biologisch zum Überleben der Art, aber auch, weil wir uns durch unsere Unterschiedlichkeiten gegenseitig ergänzen und voneinander lernen können. Und natürlich sind dabei alle in Entwicklung und können und dürfen sich verändern.

Diese Geschichte sagt uns, dass wir okay sind, und dass auch die Menschen um uns herum okay sind. Menschen machen auch Fehler, natürlich. Aber die sind dann nur das - jemand war überfordert, hat was Falsches geglaubt, usw..

Der freie Wille wird ziemlich wichtig, wenn es darum geht, wie wir uns weiterentwickeln können. Aber er ist nur da, wenn wir bewusst sind - und bewusst sein ist auf die Dauer reichlich anstrengend...

Die Wohnungen sind natürlich ein Spiegel unseres Handelns. Deshalb glaube ich, dass es nötig ist, am Handeln anzusetzen, wenn man den Zustand der Wohnung verändern will.

Schönes Wochenende wünscht
Robin


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19.08.2023 18:41
avatar  IBI
#140
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Zitat von Miranda im Beitrag #139
Also was sagt uns diese ganze Schaden- und Schuld-Story über uns selbst?

Ich denke, die hohe Kunst liegt darin den Schaden = Trauma und die Schuld und die Scham voneinander zu trennen.
Ja, es ist ansichtssache, ob sich jemand als traumatisiert bezeichnet.

Sind wir uns einige darin, dass in einem Dysfunktionalen Umfeld die Chancen auf TRAUMA höher sind als in einem konstruktiven liebevollen sicheren Umfeld, in dem den Kindern Grenzen beigebracht werden, sie mal ihre Schimpfe erhalten, die Eltern ihnen unabhängig von ihrem Verhalten die Liebe ausdrücken?
Auch der Mangel an Liebe kann zu Trauma führen.

Das, was darin zu trennen ist und mir persönlich schwer fällt:
Damals hatten die Erwachsenen gegenüber den Kindern die Verantwortung, die sie nicht übernommen haben.
Dennoch sind sie nicht unbedingt Schuld daran, dass die Kinder ein Trauma dadurch mit auf dem Lebensweg bekommen haben.
Und in mir steckt jede Menge WUT auf die Generation vor mir, die genauso wie ich hätte probieren können an sich selber etwas zu ändern, um den kindern ein angenehmeres leben zu ermöglichen.


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