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Die Möchtegern-Minimalistin
Weinend packe ich gerade den kleinen Koffer aus, in dem ich Dinge meiner Mutter ins Haus getragen habe, die ich behalten will.
Einige Romane, die seit meiner Kindheit im Elternhaus waren, und die ich viele Male mit immer gleichem Vergnügen gelesen habe. Ein paar Fotoalben mit meinen Eltern, als sie ganz jung waren. Einzelne Fotos unserer kleinen Familie. Einige wenige Gläseruntersetzer aus feiner Holzeinlegearbeit. Eine Porzellanschale. Eine Vase.
Ich habe diese Dinge sehr bewusst lange vor dem Tod meiner Mutter ausgewählt. Deshalb weiß ich, dass ich momentan jedes einzelne Teil davon behalten will.
Ich bringe es nicht fertig, sie heute meinem dienstäglichen Auslöseprozess zu unterwerfen. Ich gliedere sie in die funktionierenden Abteilungen meines Haushalts ein. Löse sie 1:9 aus, wenn ich die Wohnzimmermitte freigekriegt habe, und auf der freien Fläche im Kondostil nach Sparten entkrempeln kann.
Aber soll ich wirklich Dinge behalten, die mich dermaßen zum Weinen bringen?
Ja. Denn es sind überwiegend unersetzliche, nie mehr wiederbeschaffbare Sachen. Die endgültige Entscheidung über ihren (Nicht)Verbleib bei mir kann ich nicht treffen, solange ich so tief trauere.
Heute hat mich beim Sachen-Auslösen ein Karton voller Behälter gerettet.
Ich hätte geschworen, dass sich alle meine Dosen, Schachteln usw. streng platzbegrenzt an einem Ort befinden. Doch da tauchte heute in der Wohnzimmer-Mittelbarriere dieser Karton voll mittelmäßiger Schraubgläser und unattraktiver, leerer Vitaminpillenfläschchen auf, mit dem ich zwei Drittel der Behalten-Beute vom vorigen Dienstag freischalten konnte.
In einem Schuhkarton voller Schreibwaren fand ich genügend Wegwerfartikel, um das dritte Drittel frei zu bekommen.
Nächsten Dienstag schaffe ich den Rest der Mittelbarriere weg. Dann wird es einfacher, weil es nach Sparten geht. Ich werfe beispielsweise alle meine T-Shirts in den Ring. Zähle sie, teile die Gesamtzahl durch neun. Damit weiß ich, wieviele T-Shirts ich behalten darf, und suche mir die schönsten aus.
Bei Kleidung mache ich bei der erlaubten Anzahl der Behalten-Sachen allerdings den Realitycheck: Ich möchte von jeder Art Kleidungsstücke mindestens soviele haben, dass ich notfalls zehn Tage ohne Wäschewaschen auskomme. Plus die Ausstattung, die ich in meiner ständig gepackten Reisetasche habe.
Denn ich glaube nicht, dass ich 15 x 9 = 135 Unterhosen besitze...
Heute schob ich beim Staubsaugen die Bodendüse stolz die breite Schneise entlang, die ich in der Mittelbarriere im Wohnzimmer vom Krempel befreit habe.
Dass das normale Bodensaugteil "Bodendüse" heißt, weiß ich, weil ich es gerade nachgeschlagen habe. Im "Großen Reader's Digest Bilderlexikon", das ich gestern beim Entkrempeln wiedergefunden habe. Es ist eins der Bücher, bei dem ich keine Sekunde überlegen muss: Das ist ein (Wort)Schatz und bleibt für immer bei mir. (Geständnis: Regelwidrig habe ich es nicht 1:9 ausgelöst, sondern beglückt sofort meinem Haushalt einverleibt.)
Ich bin begeistert, dass die Wohnung nach jeder Entkrempelsitzung Stück für Stück besser funktioniert. Das entkrempelte Regal mit dem aktuellen Schreibkram nach dem ersten Ausmist-Dienstag. Die jetzt staubsaugbare Schneise. Das wiedergefundene Buch.
Schade, dass es so langsam vorangeht. Aber ich sehe momentan kein anderes Zeitfenster als die Stunden am Dienstag. Denn ich gefährde auf keinen Fall durch zuviel emotional belastendes, zeit- und energieaufwändiges Entkrempeln all die Prozesse, die in meinem Leben 1a funktionieren:
• gesunde Ernährung
• tägliche Bewegung
• die bereits seit Langem entkrempelten Teile der Wohnung krempelfrei und aufgeräumt halten
• regelmäßiges Putzen, wo immer ich rankomme
• Zeit zum Ausruhen
• Jobarbeit
Ich bin sehr gespannt, ob Kondos Sparten-Entkrempeln wirklich so sinnvoll ist, wie Konmarie behauptet. Doch zuerst beseitige ich nächsten Dienstag die restliche Mittelbarriere.
Habe vorhin in einem anderen Thread sinngemäß geschrieben, dass die Foristin endlich in ihrem eignen Tempo ohne Druck und Stress an ihrer Wohnung weiterarbeiten kann, sobald sie den Besichtigungstermin mit ihrer Vermieterin hinter sich hat.
Gerade ist mir bewusst geworden: Ich setze mich ständig selbst unter (Zeit)Druck beim Entkrempeln. Nie bin ich zufrieden mit dem Ausmaß meines Fortschritts. Ich werfe mir dauernd vor, dass ich viel zu wenig und viel zu langsam entkrempele. Entkrempeln ist eine Bürde und eine weitere meiner vielen Pflichten.
Dabei ist es ein Privileg, meine vollgestopfte Wohnung wie einen Umsonstladen zu behandeln, in dem ich mir alles aussuchen und behalten darf, das mir gefällt. Ich besitze einige wunderschöne Sachen, die ich liebend gerne benutzen werde, wenn ich sie ausgegraben habe und Platz für sie geschaffen habe.
Deshalb beschließe ich hiermit: Ich nehme den Druck raus. Entkrempeln ist ab jetzt für mich wie Shopping in Aladins Schatzhöhle.
Es ist egal, wie viel oder wie wenig Zeug ich bei einer Entkrempelsitzung aus dem Haus schaffen kann. Ich will den Luxus genießen, mir schöne Sachen auszusuchen. Unerwünschtes Zeug wegzuschaffen ist eine willkommene Nebenwirkung.
ALLE MAL HERHÖREN: ICH KANN JETZT QUER DURCHS WOHNZIMMER GEHEN!!!
Barrierefreier Durchgang von der Flurtüre bis zu Terrassentüre. Ich freue mich so sehr.
Natürlich habe ich mit allen Tricks gearbeitet. Die 1:9-Methode vorübergehend ausgesetzt. Vieles bei den entsprechenden Kategorien an den Wänden aufgestapelt.
Beifang war Krempel im Volumen von gut 50 Litern, den ich in der Mülltonne, der Papiertonne und im Verschenkregal entsorgt habe.
Hübsche Nebeneffekte ergaben der dabei ausgegrabene Sonnenschirm, den ich gleich im Garten aufgestellt habe, und das wiederentdeckte Vogelbad, das ebenfalls in den Garten kam und jetzt schon neugierig von den Spatzen beäugt wird.
Doch der Clou bleibt das freigelegte Wohnzimmer. Wie sehr mich die Mittelbarriere belastet hat, merke ich erst jetzt, da sie weg ist. Ohne zu übertreiben: Es ist lebensverändernd für mich, dass das Wohnzimmer nun für Messieverhältnisse nahezu leer ist. Ich fühle mich befreit und voller Hoffnung für den Rest der Wohnung.
Die Mittelbarrikade zu schleifen, war buchstäblich ein Durchbruch. Ich hatte den Wall resigniert als ungünstige bauliche Tatsache akzeptiert. Quasi als eine von irgendeinem verrückten Baumeister gezogene Zwischenwand mitten im Wohnzimmer, mit zwei schmalen Durchschlüpfen an den Enden, durch die ich von der einen Hälfte des Zimmers in die andere kam.
Dabei war es einfach nur Krempel, den ich an ein paar Dienstagen nach Sparten getrennt problemlos durchgehen und weitgehend entsorgen kann.
Nächsten Dienstag sind ein paar Nacharbeiten dran, für die ich heute zu durcheinander war vor lauter Freude: Ein schmaler, niedriger Tisch voller Schreibkram ist im Wall aufgetaucht, den ich zwar an die Wand geschoben, aber noch nicht abgeräumt habe. Und mein "Reiseturm", ein 40 cm x 40 cm und einen Meter hohes Regaltürmchen, der (mir zugänglich und voll in Betrieb) im Wall stand und meine Reisetaschen enthält.
Den Reiseturm möchte ich geschickter einräumen und dabei den Inhalt reduzieren. 1:9 wird nicht funktionieren, weil ich sowieso sparsam ohne Überschuss packe. Doch ich werde dort trotzdem minimalisieren können. Wie gesagt, das ist nächsten Dienstag dran.
Heute bin ich den Rest des Tages damit beschäftigt, mich über mein Wohnzimmer zu freuen. Man sieht mir die Freude an. Mein attraktivster Nachbar machte mir vorhin an der Altpapiertonne das Kompliment: "Du siehst heute super und sehr glücklich aus. Bleib so!"
Entkrempeln macht schön...
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