Das Gefühl, dass man es nicht wert ist, schön und geborgen zu leben

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11.12.2022 15:28
avatar  Tari
#1
Ta
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Hallo Forum,

ich merke gerade, dass ich bei mir emotional an einem Punkt nicht weiterkomme. Ich merke selbst, dass der Gedankengang etwas verdreht ist, und ich bin auch bereits in Therapie, wo ich lerne, mit verdrehten Gedanken klarzukommen, aber die nächste Sitzung ist erst wieder in eineinhalb Wochen. Und vielleicht haben andere Betroffene mitunter noch mal Selbsthilfe-Blickwinkel, die eine Therapie zwar nicht ersetzen, aber auch noch mal weiterhelfen. Anders.

Die Situation ist folgende: Ich habe in den vergangenen zwei Jahren (!) extrem viel entrümpelt und ausgemistet. Dabei hat mir die Methode von Marie Kondo sehr geholfen. Mein Kleiderschrank ist inzwischen angemessen gefüllt, mein Bücherschrank auch, in der Küche habe ich auch nur noch ungefähr die Vorräte, die ich brauche. Viele andere Dinge habe ich auch entsorgt und nicht sofort Neues gekauft, weil ich gemerkt habe: Diese Dinge zu besitzen macht mich gar nicht glücklich.

Inzwischen bin ich beinah an dem Punkt, wo meine Wohnung so schön ist, wie ... Wie ich sie gern hätte. Irgendwie.

Aber ich kriege es nicht hin, sie dann auch schön zu machen. Ich schütte Kaffee auf den sauberen Boden, laufe hindurch und wische es nicht weg, und zack, ist es genauso ungemütlich wie früher. Und irgendein Teil in mir atmet auf: Ich bin es halt nicht wert, anders zu leben als so.

Für dieses Wochenende hatte ich mir vorgenommen (und das auch mit meiner Therapeutin besprochen, die gleichzeitig immer sagt, ich soll aber auch geduldig mit mir selbst sein), die Möbel im Wohnzimmer so zu rücken, dass ich den Fußboden in der einen Hälfte rausreißen und neu verlegen und dann die Möbel auf die neu verlegte Stelle schaffen kann. Vom Zeitaufwand und vom Können her wäre das durchaus realistisch gewesen. Ein kleiner Teilschritt auf dem Weg zum großen Ziel.

Aber was mache ich? Reiße sieben Bretter raus, lasse sie auf dem Boden liegen (schon am Freitag), und seitdem verbringe ich die Zeit wieder damit, mich selbst zu hassen, weil ich nichts wert bin. Weil es anmaßend war, meine Wände so schön zu tapezieren (das habe ich im vergangenen halben Jahr etappenweise gemacht) und dann zu glauben, dass jemand wie ich in einem schönen, behaglichen, stilvollen Zuhause leben könnte.

Jetzt ist es nämlich wieder eine Saubude, ein Müllhaufen, in dem man nicht leben kann, das Wohnzimmer ist so unbehaglich, dass die Mustertapete an der einen Wand und die sorgfältig in zwei Farben gestrichenen anderen Wände mit dem schönen Dekoband darüber, die schönen, selbstgenähten Vorhänge überhaupt keine Rolle mehr spielen. Es ist unbehaglich und bäh.

Und irgendein Teil von mir scheint entschieden zu haben, dass es jetzt so bleiben soll. Weil ich mehr als das nicht wert bin.

Kennt ihr dieses Gefühl? Dieses psychische Blockadegefühl, wenn es an irgendeiner Stelle einfach nicht weitergeht und man anfängt, sich selbst zu hassen, weil man zu glauben gewagt hat, dass man es wert ist, in einem schönen Heim zu leben?

Was hilft euch da?


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11.12.2022 16:40
avatar  IBI
#2
IB
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Hi Tari,

willkommen. Schön, dass du hier bist und wirklich intensiv an dir gearbeitet hast gemeinsam mit deiner Therapeutin.
Klasse.

Zitat von Tari im Beitrag #1
Ich bin es halt nicht wert, anders zu leben als so.

In meiner letzten Weiterbildung habe ich gelernt, dass Babys, die von ihren Eltern unzureichend reguliert werden, einen inneren Gefühl von WERTLOSIGKEIT ausbilden.

Mich haben die Infos erstmal "umgehauen" und emotional gefordert.
Das bringt meine Wut auf die Inkompetenz meiner Mutter hoch....und sie konnte nicht anders, weil ihre Mutter wahrscheinlich auch keine bessere Kindheit hatte....

Ein wichtiges Bedürfnis, das ein Säugling zusätzlich zum genährt werden, braucht, war nicht/ extrem unzureichend erfüllt. Vor allem das Gefühl der GEBORGENHEIT ist sehr zu kurz gekommen. Sprich, dein Körper konnte nicht wirklich lernen, wie sich Geborgenheit anfühlt.

Mein Körper agiert mit "Wärme gibt Geborgenheit." Wie sich regulierte Geborgenheit anfühlt, diese Erfahrungen fehlen ihm noch. Er konnte bereits einige kennenlernen, dennoch fehlt ihm Essenzielles in dieser Hinsicht.

Scheiss Spiel - erste Traumaindizien

Zitat von Tari im Beitrag #1
seitdem verbringe ich die Zeit wieder damit, mich selbst zu hassen, weil ich nichts wert bin.

Vielleicht steckt in mir auch ein KERN des Selbsthasses, weil ich nichts wert bin.
Ich spüre ihn nicht so wie du und gleichzeitig nehme ich war, dass ich etwas in mir nicht annehmen und akzeptieren kann....könnte also etwas mit sanften Hass zu tun haben, ich würde es anders benennen.


Zitat von Tari im Beitrag #1
dann zu glauben, dass jemand wie ich in einem schönen, behaglichen, stilvollen Zuhause leben könnte.

Das widerspricht sich, ein schönes Stilvolles Zuhause haben zu dürfen, wenn es aus deinem inneren her nicht erlaubt ist, weil die innere WERTvorstellung bedauerlicherweise gestört ist.


Ich kann dir in diesem Punkt nicht wirklich weiter helfen, weil ich auf meine Weise dort angekommen bin. Er sitzt tief im Körpergedächtnis und braucht viel, um sich verändern zu können.
Wenn du nicht bereits viel für dich getan hättest, wärst du nicht an diesem Punkt deines Dilemmas angelangt.

Ich kann oft nicht glauben, wenn sich bei mir Veränderungen einstellen, dass sie sich tatsächlich einstellen. Ist es möglich? Ist das echt? Ist es wahr? Dennoch, die Realität zeigt mir, ich reagiere in vielen Momenten anders als früher. Weniger gestresst und insgesamt gelassener, nehme Rückmeldungen weniger persönlich und nehme Rückmeldungen, die sich wieder kehren, sehr ernst, denn sie bedeuten, dass es etwas Traumatisiertes in mir gibt, zu dem ich noch keine Bewusstheit habe.

Die alten Glaubenssätze sind nicht bereit sich so schnell geschlagen zu geben, schliesslich haben sie Jahre damit verbracht, das Wertlosigkeit Teil des eigenen Lebensmusters wurde.
Und diesen Glaubenssatz konnte ich mir nicht bewusst aussuchen, er musste sich in einem unvollständig entwickelten Säuglinggehirn seinen Platz suchen und seine Wahrheit will immer wieder bestätigt werden.
Auch dann wenn der Verstand sagt: Bullshit, diese Wertlosigkeit ist unangebracht.
Sie ist da. Keine Frage und sie hängt in deinem Körper an anderen Stellen fest, als der Inhalt, der sich später mit dem Lernen auf Verstandesebene hinzu gesellt hat.

Du hast sooo lange daran gearbeitet und hattest sooo viel Hoffnung in einer wunderschönen Wohnung zu leben....jetzt, wo sich diese Hoffnung fast erfüllt, was steckt noch darin?
Wertlosigkeit als Erlebnis ist das eine....

Sei mir nicht böse, wenn ich vermute, dass darin noch weitere Elemente verborgen liegen können, die mit diesen Situationen zusammen hängen.

Hast du eine Vision, wie du dein Leben leben wirst, in einer ordentlichen Wohnung, mit weniger Dreck und Wertlosigkeit? Hast du Freunde, die du zur Einweihung einladen kannst?
Hast du Angst vor Menschen, die dir mit ihren Kommentaren dich an deine "Wertlosigkeit" erinnern, indem sie ständig bewerten?

Ich für meinen Teil, vermute das diese Angst auf mich zutrifft. Mich ständig "wertlos" zu fühlen, ist anstrengend und doch sehr gewohnt.
Mich wertvoll zu fühlen, ist ungewohnt und braucht einiges an Gefühlstraining.
Ich habe lange keine Komplimente annehmen können, geschweige denn erkannt....war ja nichts wert.....

Wie auch immer deine Kette dieser Zusammenhänge aussieht. Jedes Glied, das du zu trennen vermagst, um es an einer angemesseneren Stelle wieder einzubauen oder gar nicht einzubauen, ist ein Stück auf dem Weg zu deiner inneren WErtsteigerung.

Jeder Mensch ist wertvoll. Auch diejenigen, die sich wertlos fühlen und das von der Gesellschaft oft gespiegelt bekommen.
Wir beide sind wertvoll.
Alle anderen Leser sind wertvoll.


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11.12.2022 19:34
#3
An
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@Tari
Nicht verzweifeln! Das Gute ist, dass Du Dir dieser Gefühle bewusst bist. Das heißt, das Problem hat jetzt einen Namen.
Jetzt musst Du Dein Unterbewusstsein noch drei Mal "warum?" fragen und dann kommst Du zum Ursprung.
Wie IBI richtig schreibt, geht die Ursache oft in ganz frühe Kinderzeiten zurück. Die Eltern haben Dir vermutlich signalisiert, dass Du (für sie) nicht wertvoll bist.
Lass Dich nicht unterkriegen! Jetzt erst Recht! Du hast schon so viel geschafft und Du bist es wert, das auch zu genießen!!


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13.12.2022 14:18
avatar  Scherbe
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Hallo Tari,
hallo alle,

öfter mal frage ich mich auch, warum ich mich da scheinbar selbst blockiere (oder gar sabotiere), mich vom Vorankommen selbst abhalte und mir im wahrsten Sinne des Wortes "Steine" in den Weg lege.

Im Moment stelle ich mir auch die Frage: bekanntlich mochte ich meine Wohnung ja noch nie wirklich - will jetzt irgendetwas in mir die Kündigung sogar provozieren?? Gruselig...

Da finde ich es super, liebe Tari, dass du eine Therapie machen und so auch allem besser auf die Spur kommen kannst.

Und Glückwunsch zu all dem, was du schon GESCHAFFT HAST!

Ich wünsche dir, dass du Geduld mit dir haben kannst und es immer weitergeht - bei manchen von uns, auch bei mir, scheint das zeitweise "ein Schritt vor und zwei zurück" mit dazu zu gehören...

Liebe Grüße,
Scherbe


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13.12.2022 20:35 (zuletzt bearbeitet: 13.12.2022 20:46)
avatar  Tari
#5
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Danke für eure lieben Antworten! Das tut beim Lesen richtig gut.

Zur Präzisierung: Ich bin wegen einer ganz anderen Geschichte in therapeutische Behandlung geraten.

Das Augenmerk lag dadurch erst mal auf der Arbeit, damit man seinen Lebensunterhalt weiter bestreiten kann. Und dann allmählich darin, diese brutalen, unmenschlichen Panikschübe etwas besser unter Kontrolle zu bekommen und dadurch auch ein wenig Lebensqualität zurückzugewinnen. Deswegen habe ich Ordnung bzw. Chaos und Müllberge immer als etwas wahrgenommen, was sich von allein ändern wird, wenn es mir seelisch besser geht. Tatsächlich habe ich ja auch ausgemistet und bereits sehr viel renoviert.

Aber irgendwie ... Ist es doch ein separates Problem. Vielleicht nur ein Sekundär-Problem, aber Fuck noch mal, man muss es doch lösen können!

***

IBI, was du schreibst liest sich unglaublich warm und liebevoll. Ich kann diese Verknüpfung von Wert und Geborgenheit instinktiv total gut nachvollziehen. Geborgenheit ist ein Gefühl, das man bei dieser fiesen Psychokrankheit, die ich habe, tatsächlich selten bis nie verspürt. Da hat man immer nur Panikattacken, die so schlimm werden, dass man seinen eigenen Namen vergisst. Vermutlich wird sich das Thema mit der Ordnung in meiner Wohnung tatsächlich regeln und ordnen, wenn ich psychisch an einem Punkt bin, wo ich mir selbst das gönnen kann - und wenn es mir gelingt, die Wohnung geborgener zu machen, dann wird das vielleicht auch wieder heilsam wirken?

Tatsächlich habe ich das dann auch direkt am Sonntagabend ausprobiert. Nicht mehr aufgeräumt (dabei habe ich blockiert, weil ich wieder überhaupt keine Ahnung hatte, wo ich hätte anfangen können in all dem Mist), sondern stattdessen Kerzen angezündet, irgendwo ein Stövchen und eine Teekanne hervorgezaubert und Tee aus winzigen Tässchen getrunken und eine Serie geguckt, die mein Teenager-Ich mit Geborgenheit assoziiert: Raumschiff Voyager.

Weitergemacht habe ich trotzdem nicht. Aber zumindest ein wenig Geborgenheit geübt. Du beschriebst ja irgendwie, dass man sein Körpergedächtnis da trainiert. Das ist tatsächlich recht ähnlich zu einigen anderen Techniken aus meiner Therapie, da werde ich auch mal fragen, ob man diesen Punkt auch mit einfließen lassen kann. Meine Therapeutin hat immer wieder neue gute Ideen, um mir wieder ein bisschen zu helfen, und freut sich auch immer, wenn ich Dinge dafür entdecke :-).

***

@Anna: Es war bei mir etwas komplizierter als "nicht gut genug", und den Ursprung zu kennen heilt ihn leider nicht immer, aber ...

Du hast völlig recht! Ich habe schon so viel geschafft. Und man darf auch mal einfach das Wissen genießen, dass man schon so viel geschafft hat, selbst wenn es von außen noch nicht so aussieht!

Kleine Schritte sind auch Schritte.

***

@ Scherbe: Danke für die Glückwünsche!

Ich wünsche dir auch so sehr, dass du da Wege findest, die verqueren Irrwege beim Denken schrittweise aufzudecken. Auf eine Weise, wo du dich sicher genug dafür fühlst. Es ist unglaublich schwer, immer wieder. Für dich vermutlich auch.

Ich habe heute immerhin eine Reihe von den neuen Vinylfliesen verlegt, bis zu dem Punkt, wo ich eine Fliese hätte teilen müssen. Das war mir dann zu kompliziert. Die aufgerissene Packung und die Schutzfolien des Klebebodens fliegen natürlich einfach irgendwo auf dem Wohnzimmerboden zwischen den zwei angefangenen Müllsäcken herum. Schritt für Schritt. Geduld haben.

Ist so schwer immer wieder ...

***

Liebe Grüße euch allen!


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