MM - Minimalismus und Mobilität

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21.11.2017 09:18 (zuletzt bearbeitet: 21.11.2017 09:24)
avatar  Nemo
#1
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Hallo zusammen!

Ich hab mich ja bereits rege in anderen Threads beteiligt und mich auch vorgestellt. Nun starte ich meinen eigenen Thread zum Thema Minimalismus und Mobilität, weil das meine zentralen Lebensphilosophien geworden sind. Viele sogenannte digitale Nomaden vereinen diese beiden Aspekte und ich selbst würde mich als regionaler digitaler Zugnomade bezeichnen, weil ich mein Messie-Problem damit gelöst habe, indem ich mir weniger Quadratmeter zugestehe als "Nest" und dafür die gute Infrastruktur von Stadt, Bahn und Unibibliothek zum Wohnzimmer mache.Ich habe sozusagen mich selbst ausgelagert, um das Problem zu lösen. Außerdem erhalte ich so regelmäßig Bewegung, was für einen Coach-Potato wie mich absolut notwendig ist, weil ich mich nur schwer selbst für regelmäßigen Sport motivieren kann wegen meiner Schmerzkrankheit. So aber hab ich über den Tag verteilt immer etwas Bewegung, wie vom Arzt verordnet. Überhaupt finden meine Fachärzte meine unorthodoxe Lösung genial.

Mein Schmerztherapeut schrieb gerade in diesem Monat einen Jahresabschlussbericht über meine Fortschritte, was mich natürlich freut, aber es gibt noch einiges zu tun, denn als Papier- und Wissensmessie muss ich mich vor allem von Papieren und dieser Sucht nach komplettem Wissen lösen, was nicht leicht ist, denn damit muss ich Wissenslücken zulassen, obwohl doch Wissen Macht bedeutet! Ich gebe also Macht ab, so scheint es, werde ohnmächtiger, weil weniger wissend, so scheint es. Aber in Wirklichkeit sind alle Normalos weitaus weniger wissbegierig, sogar auf ihren Fachgebieten. Im Gegensatz zu mir leisten sie nur 70% von dem, was ich von mir erwarte. Das erfuhr ich sogar von Professoren, die nun wirklich viel wissen in ihren Fachgebieten. Von drei Professoren (Biologie, Soziologie, Medizin) lernte ich jedoch die Bedeutung von Umsetzungskompetenz. Wissen ist heutzutage jederzeit abrufbar, man kann nicht mehr alles wissen, es ist einfach zu viel, auch für Fachleute. Es geht vielmehr um Umsetzungskompetenz und das Wissen um die Zusammenhänge in einem Wissensbereich, die aktive und körperliche Forschung und Teamarbeit, kein Elfenbeinturmleben, sondern Pionierarbeit draußen auf der Wiese oder mitten im Kulturleben einer Stadt.

Ich muss im Lager noch einiges abbauen diese Woche. Den freigewordenen Platz möchte ich mit Büchern, die mein Neffe nicht verkaufen konnte und die ich für die Nachhilfe meiner Nichte brauchen kann, verwenden. Veraltetes werde ich entsorgen, wenn sie nicht speziell wertvoll sind. Manche neuwertigen Bücher kann ich eventuell noch als Weihnachtsgeschenke brauchen. Ich möchte, dass mein Neffe genug Platz für sich selbst hat und die Sachen nicht vergammeln lässt im Keller. Da er kein Auto mehr besitzt, kann er sie nicht mehr im Ausland verkaufen wie bisher. Sein Leben hat sich auch verändert und ich möchte nicht, dass er Altlasten von mir rumtragen muss. Derzeit weiß er nämlich nicht so recht, was er mit seinen Sachen in der Stube machen soll, da sein Kellerabteil mit meinen Büchern gefüllt ist. Das ist nicht ideal und sieht auch nicht gut aus. Da ich meinen Neffen, den ich aufgezogen habe als Pflegemutter, sehr liebe, liegt mir sein Wohl besonders am Herzen, sodass mich dieser Plan zu seinen Gunsten besonders motiviert, wie überhaupt Pläne zu seinem Besten sozusagen besonders geeignet sind, um mich als Messie zu ziehen und bei mir etwas zu bewegen. Das war schon immer so. Die Kinder - er und seine Schwester - stehen bei mir an erster Stelle.


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21.11.2017 14:47
avatar  Sophie
#2
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@Nemo: Bei mir läuft es gerade anders herum. Ein Vierteljahrhundert bestand mein Leben nur aus Arbeiten und Unterwegs sein. Es hat schon Spaß gemacht, aber ich war nie irgendwo zu Hause. Ich hatte mich auch "ausgelagert", und mein Zuhause war kein Heim, sondern nur eine Schlafstätte. Dementsprechend habe ich mich auch nie groß darum gekümmert, und irgendwie ist alles verlottert.
Mein Personalchef sagte zu mir einmal, er fände das so toll, dass ich mit völlig verschiedenen Menschen vom türkischen Arbeiter bis hin zum japanischen Manger zusammenarbeiten kann. Ich sagte ihm, dass das daran liegt, dass ich mich nirgendwo zugehörig fühle. Wenn es für mich kein "Wir" gibt, gibt es auch keine "Anderen". Alle sind gleichwertig und verdienen den gleichen Respekt.
Aber diese Heimatlosigkeit hat mich unter anderen Belastungen auf Dauer krank gemacht. Schon in frühester Kindheit bin ich mehrmals umgezogen, und das hat bei mir ein Klammern an der Vergangenheit, ausgedrückt durch Dinge, ausgelöst. Mein Arbeitszimmer ist mit original Möbeln aus den 1950ern eingerichtet, mit Bildern, Büchern, Geschirr usw. aus der Zeit. Wie in einer Zeitkapsel, in der ich meine Kindheit eingeschlossen habe. Alte Gegenstände finden bei mir immer ein Zuhause. Die Haushaltsauflösung der Schwiegereltern war aus Messiesicht eine Katastrophe, der ganze herrliche Kram, zum Teil aus der Vorkriegszeit...

Diesen von dir geschilderten Perfektionismus kenne ich auch. Immer alles vollständig wissen müssen, immer die Beste sein müssen, nie Fehler machen dürfen. Gab es in der Schule mal kein "sehr gut" in Latein, gab es eine Tracht Prügel. Ich fühlte mich nur dann sicher und wertgeschätzt, wenn ich die Beste war.
Der Beruf hat mich aber gelehrt, dass es 1. nie die vollständige allumfassende Information gibt, und dass 2. Mut zur Lücke oft die einzig richtige Lösung unter Zeitdruck ist. Man kann nicht alles wissen, aber man muss wissen, wo es steht bzw. wen man fragen kann... Und man muss die Fähigkeit besitzen, sich notfalls in kürzester Zeit komplexes Fachwissen aneignen zu können, und auf Basis unvollständiger Informationen eine optimale (nicht unbedingt die ideale) Lösung zu finden. Da stimme ich dir absolut zu: man muss vor Ort gehen, ans Leben. Wissen stellt immer nur ein - vereinfachtes - Modell dar, eine Arbeitshypothese auf aktuellem Stand. Mit der Realität hat das manchmal nicht viel zu tun. Da geht es auch oft nicht um Fakten, sondern um Emotionen (auch im Maschinenbau). Es kommt darauf an, sich flexibel an sich ändernde Rahmenbedingungen anzupassen. Selbst wenn es eine perfekte Lösung gäbe, wäre sie in kürzester Zeit nicht mehr perfekt, weil sich die Welt geändert hat. Lieber 80% haben, als von 100% träumen und 0% haben.

Ich habe jetzt meinen Job verloren und verbringe viel Zeit zu Hause. Endlich komme ich dazu, mir mein "Nest" wohnlich herzurichten. Es ist ja keine Wertschätzung der Dinge, wenn alles auf einem Haufen liegt, und dabei sogar kaputt geht. Ich arbeite daran, meine "Kulturdenkmäler" ansehnlich zu präsentieren, damit ich auch Freude an meinen Besitztümern haben kann, und mich nicht der Anblick von Kruschtelhaufen gleich beim Aufstehen deprimiert.


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21.11.2017 15:11
avatar  Nemo
#3
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Zitat von Sophie im Beitrag #2
Der Beruf hat mich aber gelehrt, dass es 1. nie die vollständige allumfassende Information gibt, und dass 2. Mut zur Lücke oft die einzig richtige Lösung unter Zeitdruck ist. Man kann nicht alles wissen, aber man muss wissen, wo es steht bzw. wen man fragen kann... Und man muss die Fähigkeit besitzen, sich notfalls in kürzester Zeit komplexes Fachwissen aneignen zu können, und auf Basis unvollständiger Informationen eine optimale (nicht unbedingt die ideale) Lösung zu finden. Da stimme ich dir absolut zu: man muss vor Ort gehen, ans Leben. Wissen stellt immer nur ein - vereinfachtes - Modell dar, eine Arbeitshypothese auf aktuellem Stand. Mit der Realität hat das manchmal nicht viel zu tun. Da geht es auch oft nicht um Fakten, sondern um Emotionen (auch im Maschinenbau). Es kommt darauf an, sich flexibel an sich ändernde Rahmenbedingungen anzupassen. Selbst wenn es eine perfekte Lösung gäbe, wäre sie in kürzester Zeit nicht mehr perfekt, weil sich die Welt geändert hat. Lieber 80% haben, als von 100% träumen und 0% haben.


Supergut auf den Punkt gebracht, Sophie! Meine jetzige Heimat ist der Berg, wo meine Mutter gestorben ist. Das war unser Plan, sie sollte mit Blick auf den Berg sterben. Dort werde ich mir im neuen Jahr wie vereinbart ein Zimmer suchen. Ja, eine Heimat braucht jeder. :)


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21.11.2017 21:51
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#4
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@Sophie @Nemo

Ihr Lieben,

eure Beschreibungen erinnern mich wieder an meine Träume vom japanisch angehauchten, sparsam möblierten Interieur. Bin ich weit von entfernt.
Die 80% erinnern mich an die Pareto-Regel. Die 80% habe ich locker schon erreicht, um dann verbissen um den Rest zu kämpfen...

Ihr zwei gebt mir viele Anregungen! Danke dafür 😊
Die Kräuterfrau


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22.11.2017 10:15
avatar  Nemo
#5
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Ich war heute im Keller und suchte nach dem Abteil meines Neffen, wo meine Bücher, die er nicht verkaufen konnte, deponiert sind. Er ist damit einverstanden, dass ich sie entsorge oder anderweitig sinnvoll verwende. Es sind etwa 6 Bananenkisten. Aber dummerweise fand ich sein Abteil nicht. Dort unten ist alles zugemüllt von den Bewohnern des Wohnblocks, ich komme kaum durch. Ich weiß nicht, warum der zuständige Blockwart sich nicht darum kümmert, das wäre eigentlich seine Aufgabe. Mein Neffe kennt dessen Sohn und wies ihn auch schon darauf hin. Aber nix ist passiert. Wenn ich Geld hätte, würde ich eine Mülldeponie kommen lassen, aber ich hab im Moment kein Geld, ich entsorge ja selbst kostenlos im Lager, weil mir die Gebühren zu teuer sind. Auch wenn ich alle Bewohner zusammentrommeln und eine Sammlung machen würde, könnte ich das Risiko nicht eingehen, dann doch einen Großteil selbst zahlen zu müssen. Außerdem kann ich das unmöglich selbst raustragen. Also muss ich es einfach akzeptieren, möchte aber, dass meine Bücher unverzüglich zurück in die Wohnung gebracht werden können von mir.


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