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Halbzeit
Hallo an alle!
Ich bin Anfang 30 und meine Wohnung sah bis vor Kurzem ziemlich übel aus. Angefangen hat das Ganze vor ein paar Jahren, als ich psychisch unter dauerhaftem Stress stand und kurz darauf ein paar Dinge in meinem Leben sich gravierend verändert haben. Der große Einbruch kam, als mein Freund und ich uns trennten und er auszog - da war plötzlich die Person weg, die meine kleine Welt noch irgendwie zusammengehalten hatte. Zu nichts konnte ich mich mehr aufraffen, ich ließ mich hängen und nach einiger Zeit sah es in meiner Wohnung so aus, wie es in mir selbst aussah: Dreckig. Alles lag rum, alles blieb dort, wo ich es abgestellt oder fallengelassen hatte. Es ist schon erstaunlich, wie schnell so eine Wohnung doch vermüllt... Irgendwann hab ich dann wohl gemerkt, dass die Bude und ich auf einem ganz schlechten Weg sind und ich hab es lange Zeit immerhin geschafft, nicht noch neues Chaos dem alten hinzuzufügen. Bestimmt ein Jahr lang war der Zustand quasi eingefroren. Mir ging es auch nach und nach besser, bloß die Energie um die müllgewordene Erinnerung an die üble Zeit wegzuschaffen, die hat gefehlt. Dazu kam die Scham ("Was ist, wenn die Nachbarn was merken?")
Warum "Halbzeit"? Seit etwa einem Monat bin ich nun dabei, peu a peu die Wohnung mal wieder meinem Gemütszustand anzugleichen - diesmal aber im positiven Sinne! Nie hätte ich gedacht, dass ich mich mal so sehr darüber freuen würde, dass ich sämtliche Türen wieder normal ohne jeglichen Widerstand öffnen kann. Es liegt immer noch hier und da Krempel rum, vieles muss noch geputzt werden, aber man kann wieder von einem Ende der Wohnung gefahrlos zum anderen gehen, die Küche ist wieder benutzbar und auf meinem Bett liegt außer mir nichts mehr. Ich bin sogar so optimistisch, dass ich den Heizungstypen, der hier im Haus grad neue Leser einbaut, für die übernächste Woche einbestellt hab. Bis dahin ist die Bude weder fertig noch schön, aber wieder einigermaßen sauber und ordentlich.
Das Entsorgungsproblem war übrigens nachdem die erste Fuhre im Auto verstaut war, nur noch halb so schlimm. Wenn die Nachbarn glotzen, sollen sie das meinetwegen tun. Wer weiß, welche Leichen die vielleicht im Keller haben.
Von meinem "Zustand" weiß bis heute niemand und vermutlich käme auch niemand drauf, da ich (wie so viele) nach außen hin fröhlich, tatkräftig und ordentlich bin. Mir kommt es auch so vor, als habe das Chaos hier jemand anderes verursacht. Ich gucke in Tüten, vor denen ich vor 3 Jahren irgendwelchen Krempel reingestopft hab und frage mich "Was soll der Sch* denn hier?"
Ob ich nach dem Tag X, wenn hier wieder geordnete Verhältnisse herrschen kann, auch dauerhaft Ordnung halten kann? Ich weiß es nicht. "Wahnsinnig ordentlich" war ich nie (muss ich auch nicht mehr werden) und als Teenager sah es in meinem Zimmer immer schrecklich aus (hat auch keinen gestört), aber ich wünsche mir, dass ich in Zukunft jederzeit Besuch hereinlassen kann, ohne zu überlegen, welche Ausrede ich denn diesmal nehme, um die Leute abzuwimmeln. Immerhin bin ich seit mehreren Monaten so ausgeglichen wie seit bestimmt zehn Jahren nicht mehr. Das ist wenigstens EINE gute Voraussetzung. Es lässt mich zumindest hoffen...
Soweit erstmal von mir... gute Nacht Euch allen!
Gold
Silber
Bronze
Medaille
Pokal
Hallo leila,
herzlich Willkommen hier im Forum.
Mich interessiert sehr, wie du vorgegangen bist, oder was es bei dir ausgelöst hat, um an diesen Punkt zu kommen. :)
Die Sorge, den Zustand nicht aufrecht erhalten zu können, teile ich immer dann, wenn derjenige sich nur von negativen Verstärkern (Druck, Angst, Scham) hat motivieren lassen. Sobald die weg sind, weil wieder alles tipptopp aussieht, fehlen die positiven Anreize. Hat man nicht gelernt, sich mit denen zu motivieren, versteht man gar nicht, warum einen all die guten Vorsätze, es nie wieder so weit kommen zu lassen, wieder verlassen haben. Bei dir kann ich leider nicht rauslesen, ob du gezielt mit positiven Verstärkern arbeitest - nur, dass du das Ergebnis genießen kannst. Manchmal reicht das für die Zukunft. Aber manchmal auch nicht.
Hallo numi,
danke für die schnelle Antwort :)
Ich glaube, einen "Aha-Moment" hatte ich nie. Aber irgendwann bin ich aus dem Dämmerzustand, in dem ich mich befunden hatte, aufgewacht und habe zum ersten Mal richtig wahrgenommen, was ich angerichtet hatte. Vorher war ich wie in Trance und habe nur versucht, irgendwie zu funktionieren, wie ferngesteuert quasi.
Der Gedanke, das Ganze wieder rückgängig zu machen, hat mich allerdings lange verzweifeln lassen, weil ich nicht wusste, wo ich anfangen soll. Es war einfach viel zuviel und ich hatte Angst, dass - sollte ich merken, dass ich es doch nicht so schaffe, wie ich will - einen kompletten Rückfall bekommen und wieder hinter meinen inneren Vorhang fallen könnte. Ich war ja damals froh, dass ich überhaupt mal wieder eine Nacht durchschlafen konnte. Ich hab mich also zunächst darauf beschränkt, den Zustand zuhause nicht zu verschlimmern. Das hab ich etwa ein Dreivierteljahr durchgezogen und mittlerweile bin ich auch seit längerer Zeit viel fröhlicher und ausgeglichener. Das Einzige, was mich wirklich ausbremst, ist die Wohnung. Also musste sich da irgendwas tun.
Zuerst hab ich mir das Bad vorgenommen, einfach weil klein und Erfolg schnell sichtbar. Ich gehe aber nicht unbedingt nach dem Schema "Zimmer für Zimmer" oder "Ecke für Ecke" vor. Denn hätte ich eine Ecke fertig und würde dann eine andere daneben in Angriff nehmen, würde dabei automatisch die erste Ecke wieder irgendwie in Mitleidenschaft gezogen werden, wenn auch nur kurzzeitig. Sowas frustet mich, darum ist eine solche Vorgehensweise nichts für mich. Ich gehe stattdessen nach der "Vom Baum zum Moos" - Methode vor. Sprich: Erstmal kommt nur das Gröbste weg, das, was dringend weg muss. Die Bäume sozusagen. Wenn darunter noch Papier, ein paar Socken oder Kleingeld liegt, ist das erstmal zweitrangig, das wäre dann die Strauchschicht und wird später gerodet. Zuletzt das Moos: Wollmäuse, Schnipsel, eben das, wofür der Staubsauger zum Einsatz kommt. Natürlich herrscht nicht überall der gleiche Zustand, aber diese Ausgewogenheit ist mir lieber, als eine herrlich aufgeräumte Wohnung mit einem Zimmer, in dem sich das Chaos bis zur Decke türmt.
Ich arbeite auch nicht täglich an meinem Projekt. Ich arbeite oft bis abends und so bleiben nur 1-2 Tage die Woche, an denen ich genug Zeit und Ruhe für die Wohnung habe. An den Tagen bin ich aber auch oft locker 3 Stunden zugange. Wichtig für mich: Ich mache mir jedesmal, bevor ich starte, ein Bild vom Status quo und eines danach. Und ich teste ausgiebig, was alles wieder machbar ist: Ist das Bett wieder leer, lege ich mich hin und strecke alle Viere von mir; Ist das Sofa frei, setze ich mich auf jeden Platz in jeder möglichen Sitzposition. Ist ein Zimmer wieder allgemein ganz okay, mache ich die Fenster komplett auf und lasse Luft und Licht rein und gucke zu den Nachbarn rüber. Letzte Woche bin ich bestimmt zehn Minuten lang durch alle Räume gelaufen, wo der Boden wieder komplett begehbar ist. Wenn der Boden irgendwo komplett sauber ist, streiche ich drüber. Das macht mich glücklich und stolz und dann mach ich ein Schläfchen oder geh raus und gönne mir irgendwas - ein Eis, neue Unterwäsche, letzte Woche war es beispielsweise eine Schale Erdbeeren direkt vom Markt. Wenn ich komplett fertig bin, gibt's irgendwas Großes, soviel steht fest. Ein Kurzurlaub oder ein neues Auto, eins von beiden.
Druck verspüre ich natürlich auch (in diesem Fall konkret, was den Heizungsfritzen angeht), aber ich hab den Termin extra so vereinbart, dass es bei meinem jetzigen Pensum machbar ist. Zuviel Druck löst ohnehin bei mir das komplett Gegenteilige aus, nämlich völlige Lähmung und Resignation.
Leute, ich bin so stolz auf mich! Heute habe ich einen kaputten Tisch, zwei Glasplatten (die noch okay sind, aber ich hab einfach keine Verwendung mehr dafür), alte Pappe sowie eine tote Pflanze zum Recyclinghof gebracht und habe anschließend die Fenster zur Straße geputzt. Die sahen echt nicht gut aus. Anschließend bin ich direkt raus gegangen und habe ausgiebig das Haus und meine strahlend weißen Fensterrahmen begafft. Ein tolles Gefühl!
Mein nächstes Ziel ist es, wieder ein gutes Gefühl zu haben, wenn ich in meine Wohnung komme. Sofern ich mich aufraffen kann, die eine Rümpelecke im Flur zu beseitigen und den Boden zu saugen und zu wischen, könnte ich das heute noch schaffen. Danach werde ich mir irgendwas Leckeres vom Kiosk holen und dann das Gefühl genießen, nach Hause zu kommen und einen ordentlichen Wohnungsflur zu betreten.
Ich habe das Gefühl, mit der Wiederherstellung der Wohnung auch die schlechten Erinnerungen an die letzten Jahre zu beseitigen. Als würde ich nicht nur im Haus, sondern auch in mir aufräumen. Kennt das einer?
Mein Flur ist wieder sauber! Ich bin so begeistert, dass ich vorhin, als ich heimgekommen bin, bestimmt 2 Minuten lang dämlich grinsend in der offenen Eingangstür stehen geblieben bin. Noch vor ein paar Monaten konnte ich noch nichtmal die Tür komplett öffnen, sondern musste mich durch einen Spalt quetschen und dabei über einen Haufen Altpapier steigen. Das Altpapier ist schon länger weg, aber der Flur hatte immer noch Ramschecken. Die sind nun weg.
Ich bin anschließend zum Edeka gefahren, um mich selbst zu beschenken. Bei der Gelegenheit hab ich eine Tüte Pfandflaschen weggebracht. Ich hab mir ein kleines Eis und schön duftende Flüssigseife im Spender gekauft - in letzter Zeit hab ich zum Händewaschen immer nur das Duschgel benutzt. Auf dem Heimweg hab ich direkt nochmal meine blitzsauberen Fenster von außen bestaunt.
Wäsche hab ich noch fix gewaschen, die alte angehangen und weggeräumt, die neue aufgehängt und mein Bett neu bezogen. Nun riechen meine Hände nach der schönen fruchtigen Seife und gleich geht's zur frischen Bettwäsche. Ein schöner Tag!
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